* 20 *
Miarr blickte von der Beobachtungsplattform auf dem Leuchtturm Katzenfels – einem Leuchtturm, der auf einem kleinen Felsen mitten im Meer stand und dessen Spitze einem Katzenkopf ähnelte, samt Ohren und zwei hellen Lichtstrahlen, die aus seinen Augen schienen.
Miarr war auf Wache – schon wieder. Er bestand darauf, jede Nachtwache und obendrein viele Tageswachen zu übernehmen. Er traute seinem Mit-Wärter nicht weiter über den Weg, als er ihn werfen konnte – und in Anbetracht ihres enormen Größenunterschieds war das bestimmt nicht sehr weit, es sei denn ... Ein schwaches Grinsen zuckte um Miarrs zarten Mund, als er sich seinem Lieblingstagtraum hingab, nämlich wie er Fat Crowe aus einem der beiden Turmaugen warf. Das wäre nun wirklich ein sehr weiter Wurf. Wie weit ging es bis zu den Felsen hinab? Miarr wusste die Antwort: exakt einhundertviereinhalb Meter.
Miarr schüttelte den Kopf, um ihn von solch verführerischen Gedanken freizubekommen. Fat Crowe würde es niemals bis zum Licht hinauf schaffen – er könnte sich unmöglich durch die kleine Öffnung am Ende der Pfahlleiter quetschen, die von der Beobachtungsplattform in die Lichtarena führte. Thin Crowe hätte dagegen keine Mühe. Miarr erschauderte bei dem Gedanken, dass Thin Crowe flink wie ein Wiesel zu seinem kostbaren Licht hinaufkletterte. Müsste er zwischen den Crowe-Zwillingen wählen – eine Wahl, vor die er nie gestellt werden wollte –, würde er sich jederzeit für den Dicken entscheiden. Der Dünne war ein Unhold.
Miarr zog seine eng sitzende Mütze aus Seehundfell tiefer, sodass sie seine Ohren bedeckte, und schlang sich den Umhang fester um den Leib. In der Spitze des Leuchtturms war es kalt, und der Sturm ließ ihn frösteln. Er drückte seine kleine flache Nase an die Fensterscheibe und spähte hinaus in das Unwetter, die großen runden Augen weit offen. Sein scharfer Nachtblick durchdrang die Dunkelheit. Der Wind heulte und peitschte den Regen gegen die dicken grünen Scheiben der Fenster auf der Beobachtungsplattform. Die beiden Strahlen des Lichts beschienen die Unterseite der schwarzen Gewitterwolken, die eine geschlossene Decke bildeten und so tief hingen, dass Miarr glaubte, die Ohren des Leuchtturms müssten sie berühren. Ein stummes Wetterleuchten flackerte durch die Wolken, und Miarrs Nackenhaare knisterten vor Elektrizität. Ein Schwall Hagelkörner prasselte gegen die Scheibe, und er schrak zusammen. Einen so heftigen Sturm hatte er lange nicht mehr erlebt. Er bedauerte jeden, der heute Nacht da draußen war.
Leichtfüßig drehte er eine Runde auf der Beobachtungsplattform und suchte mit den Augen den Horizont ab. In einer Nacht wie dieser konnte ein Schiff dem Leuchtturm leicht zu nahe kommen und in die Gefahrenzone getrieben werden. Und wenn dies geschah, musste er nach unten ins Rettungsboot und versuchen, das Schiff in sichere Gewässer zu lotsen, und das war in einer solchen Nacht kein leichtes Unterfangen.
Aus der kleinen Schlafkammer ganz unten im Leuchtturm hallte das laute, röchelnde Schnarchen Fat Crowes durch das höhlenartige Treppenhaus herauf. Miarr seufzte schwer. Er wusste, dass er einen Gehilfen brauchte, aber warum ihm der Porter Hafenmeister ausgerechnet die Crowe-Zwillinge geschickt hatte, war ihm ein Rätsel. Seit sein Kollege und Cousin Mirano – neben ihm der letzte Spross seiner Familie – spurlos verschwunden war, musste er seinen Leuchtturm mit diesen Kreaturen teilen. Mirano war in der Nacht verschwunden, als das neue Versorgungsboot, die Plünderer, der Insel seinen ersten Besuch abstattete. Anfangs waren die Crowe-Zwillinge ihm kaum besser als Affen erschienen. Inzwischen hatte er seine Meinung korrigiert, aus Respekt vor den Affen. Jetzt fand er, dass Fat und Thin Crowe kaum besser als Nacktschnecken waren, mit denen sie eine frappierende Ähnlichkeit hatten.
So kam es also, dass in der gemütlichen Schlafkammer mit der bequemen Gänsedaunenkoje, die er sich einst mit Mirano geteilt hatte, jetzt dieser Fat Crowe lag. Miarr, der seit Miranos Verschwinden kaum noch ein Auge zugetan hatte, knurrte unglücklich. Wie alle Leuchtturmwärter hatten er und Mirano abwechselnd in demselben Bett geschlafen und jeden Tag nur ein paar Stunden zusammen verbracht, wenn sie auf der Beobachtungsplattform saßen und vor dem Wachwechsel ihre allabendliche Fischmahlzeit verzehrten. Inzwischen schlief Miarr auf einem Haufen Säcke in einer Kammer am Fuß des Leuchtturms – oder versuchte es zumindest. Er verriegelte stets die Tür, aber die Vorstellung, dass in seinem schönen Leuchtturm ein Crowe frei herumlief, ließ ihn keine Ruhe finden.
Miarr schüttelte sich, um die düsteren Gedanken loszuwerden – es war nicht gut, über die alten Zeiten nachzusinnen, als der Leuchtturm Katzenfels noch eines von vier Lebenden Leuchtfeuern war und er, Miarr, noch mehr Cousins und Geschwister hatte als Finger und Zehen. Es war nicht gut, an Mirano zu denken – er war für immer von ihm gegangen. Miarr war nicht so dumm, wie die Crowes dachten. Er glaubte ihre Geschichte nicht, wonach Mirano seiner Gesellschaft überdrüssig geworden sei und sich auf ihrem Boot fortgestohlen habe zu den hellen Lichtern von Port. Miarr wusste, dass sein Cousin, wie man unter Leuchtturmwärtern sagte, den Fischen Gesellschaft leistete.
Er kauerte sich vor das dicke gewölbte Fenster und starrte in die Dunkelheit. Weit unten sah er, wie die Wellen sich aufbauten, immer höher und höher stiegen, bis sie sich unter donnerndem Tosen brachen und schäumende Gischt in die Luft schleuderten, so hoch hinauf, dass sie sogar an die Beobachtungsscheibe klatschte. Miarr wusste, dass der Sockel des Leuchtturms jetzt unter Wasser stand – er merkte es an den dumpfen Erschütterungen und Stößen, die durch die Granitblöcke heraufdrangen und sich von den Ballen seiner in Filzstiefeln steckenden Pfoten bis unter seine Seehundfellmütze fortpflanzten. Doch wenigstens übertönten sie das Schnarchen Fat Crowes, und das Heulen des Windes trug alle Gedanken an seinen verlorenen Cousin davon.
Miarr fasste in den wasserdichten Beutel aus Seehundleder, den er am Gürtel trug, zog sein Abendessen – drei kleine Fische und einen Schiffszwieback – hervor und begann zu essen. Dabei beobachtete er weiter mit weit aufgerissenen Augen das Meer, das von den beiden großartigen, über die wogenden Wasserberge streichenden Lichtstrahlen erhellt wurde. Es versprach eine interessante Nacht zu werden.
Miarr hatte gerade den letzten Fisch verschlungen – mitsamt Kopf, Schwanz, Gräten und allem –, als sich zeigte, wie interessant die Nacht werden sollte. Normalerweise beobachtete er nur das Wasser, denn was konnte es am Himmel schon Interessantes zu sehen geben? Doch in dieser Nacht ließen die Wellenberge die Grenze zwischen Wasser und Himmel verschwimmen, und Miarrs großen Augen entging nichts. Er war gerade damit beschäftigt, eine kleine, zwischen seinen spitzen Zähnen steckende Gräte zu entfernen, und daher etwas abgelenkt, als in einem der beiden Lichtstrahlen kurz die Gestalt eines Drachen erschien. Miarr schnappte ungläubig nach Luft. Er schaute noch einmal hin, sah aber nichts. Das stimmte ihn nachdenklich. Es war ein schlechtes Zeichen, wenn Leuchtturmwärter anfingen, sich Dinge einzubilden – und ein sicheres Zeichen dafür, dass ihre Tage als Wärter gezählt waren. Und wenn er fort war, wer würde dann das Leuchtfeuer hüten? Doch schon im nächsten Augenblick lösten sich alle seine Befürchtungen in Luft auf. Der Drache tauchte erneut in dem Lichtstrahl auf, so klar wie der helle Tag. Wie eine riesige Motte, die sich in eine Flamme stürzt, kam er direkt auf das Leuchtfeuer zu. Miarr stieß ein verwundertes Jaulen aus, denn jetzt sah er nicht mehr nur den Drachen, sondern auch seine Reiter.
Ein Donnerschlag direkt über ihm ließ den Leuchtturm erbeben. Ein greller Blitzstrahl zuckte herab und fuhr mit einer blauen Stichflamme in den Schwanz des Drachen. Der Drache wurde aus der Bahn geworfen, und mit Schrecken sah Miarr, wie er und seine Reiter, eingehüllt in ein bläulich elektrisches Flimmern, direkt auf die Beobachtungsplattform zurasten. Einen Moment lang leuchtete der Lichtstrahl in die entsetzten Gesichter der Drachenreiter, dann gewann der Instinkt die Oberhand, und Miarr warf sich zu Boden und wartete. Gleich musste der Drache in die Scheibe krachen.
Doch es geschah nichts.
Vorsichtig richtete sich Miarr wieder auf. Im Schein der beiden Strahlen war nichts weiter zu sehen als der leere, verregnete Himmel über und die tobenden Wellen unter ihm. Der Drache und seine Reiter waren verschwunden.